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Vor einem Jahr feierte der junge Asylbewerber Sohail Ajab Khan sein erstes Weihnachtsfest in der Schweiz. Der Abend veränderte sein Leben.

Von Ramin Nowzad

An die jungfräuliche Geburt glaubt Karin Volken eigentlich nicht. Aber letzte Weihnachten ist es ihr irgendwie auch passiert. An Heiligabend betrat ein junger Mann aus Afghanistan ihre Wohnung. Nach ein paar Stunden nannte er sie «Mama», drei Wochen später zog er bei ihr ein.

Karin Volken ist 57 Jahre alt und liest seit ihrer Jugend buddhistische Bücher. Ihre lockigen Haare hat sie rot gefärbt, sie trägt bunte Schals, liebt afrikanische Tänze und unterrichtet in Luzern Qi-Gong. «Religiös kann ich mit Weihnachten nicht mehr viel anfangen », sagt sie, «aber als Familienfest liebe ich es noch immer.» Im vergangenen Jahr brachte ihr Sohn Enea an Heiligabend einen jungen Asylbewerber aus Afghanistan mit nach Hause. «Enea sagte zu mir: ‹Mama, das ist doch der Tag für sowas.› Und ich dachte: ‹Hm. Ein Moslem? Wir wollen doch im Garten Weisswein und Sekt trinken.›»

Der junge Moslem war Sohail Ajab Khan. Sohail ist 25 Jahre alt, trägt Dreitagebart und raucht selbstgedrehte Zigaretten. Seine schulterlangen Haare hat er zu einem Zopf gebunden, am rechten Ohrläppchen hängt ein silberner Ring. «Schon als Kind haben mir die Taliban gesagt: ‹Sohail, du läufst rum wie ein Hollywoodstar›», sagt er und lacht. Seit Anfang des Jahres steht sein Bett im Luzerner Flüchtlingsheim leer.

Sie ermordeten seine Familie, aber sie wollten ihn
«Karin sorgt sich um mich wie um einen Sohn», sagt Sohail, «und ich liebe sie wie meine Mutter. Mir wurde an Weihnachten ein neues Leben geschenkt.» Sein altes Leben endete vor drei Jahren. Damals besuchten Islamisten sein Elternhaus in Afghanistan. Seine Mutter kochte für die Besucher gerade Tee, als die Männer ihre Messer zückten. Sie töteten Sohails Vater, seine fünf Schwestern und seine vier Brüder. Als Sohails Mutter mit dem Teetablett die Stube betrat, zündete die Bombe. Sohails Mutter überlebte – schwer verletzt.

«Meine Familie starb wegen mir», sagt Sohail und blickt in die Ferne. Die Mörder waren Kämpfer des «Islamischen Staats». Sohail hatte als Jugendlicher für die NATO als Übersetzer gearbeitet. «Als die Amerikaner 2001 in Afghanistan einmarschierten, musste man sich entscheiden: Stehe ich auf der Seite des Westens oder auf der Seite der Islamisten», sagt Sohail. «Ich habe mich gegen die Islamisten entschieden. Die USA haben schliesslich behauptet, sie würden uns Freiheit und Demokratie bringen. Dass das nicht passiert ist, wissen wir heute.» Mit dem Geld, das ihm die NATO zahlte, unterstützte er seine Familie und finanzierte Englischunterricht für Kinder. «Teufelsgeld» nannten es die Dschihadisten.

«Eine Mutter ist wie ein Garten»
Sohail wollte sein Land nach dem Mord an seiner Familie nicht verlassen. Aber als er sich aus Furcht neun Monate nicht mehr aus seinem Zimmer getraut hatte, drückte ihm seine Mutter eine Pistole in die Hand. «Töte uns», sagte sie, «oder renne los. Wenn du flüchtest, überlebst du vielleicht. Wenn du bleibst, bist du sicher tot.»

«Eine Mutter ist wie ein Garten», sagt Karin Volken und zieht an ihrer Zigarette. «Sie gibt ihren Pflanzen die Möglichkeit, sich zu entfalten. Diesen Raum versuche ich Sohail nun in Luzern zu schaffen.» Seit Sohail bei Karin wohnt, hat sein Leben eine neue Richtung eingeschlagen. «Im Flüchtlingsheim lag ich den ganzen Tag im Bett und dachte darüber nach, wie ich mich umbringen könnte», erinnert sich Sohail. «Nun versuche ich, andere Flüchtlinge zu motivieren. Ich sage ihnen: ‹Verlasst eure Betten, werdet aktiv! Und geht auf die Menschen in der Schweiz zu! Ihr seid ihnen nicht egal – sie kennen euch nur nicht.›»

Heute Mittag hat Sohail in Luzern 200 Puppen, Spielzeugautos und Kindergitarren gekauft. Er wird sie in den nächsten Tagen in den Asylunterkünften der Region verteilen. Als nächstes will er 500 Sprachbücher auftreiben. Vor neun Monaten hat Sohail die NGO «Education for Integration» gegründet, um geflüchteten Menschen Deutsch beizubringen. Inzwischen sind es mehr als 40 freiwillige Helferinnen und Helfer, die er für sein Projekt gewinnen konnte. In Luzern, Basel und Zürich organisiert er Partys mit Live-Bands, DJs und afghanischem Essen. Mit den Eintrittsgeldern deckt er die Kosten.

«Es ist unglaublich, was er in den vergangenen Monaten aus seinem Leben gemacht hat», sagt Karin Volken. «Ich habe einmal zu ihm gesagt: Sohail, es hat einen Grund, warum du überlebt hast!»

An Wiedergeburt glaubt Sohail Ajab Khan eigentlich nicht. Aber als er das erste Mal vor Karins buddhistischem Altar stand, sagte er zu ihr: «Mama, im nächsten Leben bin ich dann dein echter Sohn.»