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Die Kurdin Sewe Karakus flüchtete vor sieben Jahren aus der Türkei in die Schweiz. Heute hilft sie anderen Geflüchteten, die in Europa angekommen sind.

Von Ramin Nowzad

Die einfachsten Fragen sind die schwierigsten. Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Sewe Karakus ist 31 Jahre alt, wohnt in Bern und denkt über diese Fragen momentan besonders viel nach. Vor siebeneinhalb Jahren flüchtete Sewe aus der Türkei in die Schweiz. Damals hiess sie noch Sevda.

«Als ich in der Schweiz ankam, sah ich im Zug Willkommensschilder in allen vier Landessprachen», erinnert sie sich. «Ich konnte es nicht glauben und musste sofort ein Beweisfoto schiessen.» Als Sewe in der Türkei aufwuchs, war es Kurden verboten, ihre eigene Sprache zu sprechen. «Nicht einmal einen kurdischen Vornamen durfte ich tragen. In meiner Geburtsurkunde steht ‹Sevda›.»

Sewe spricht inzwischen gutes Deutsch – mit Berner Akzent. Mit 21 sass sie das erste Mal im Knast. Ihr Verbrechen: Sie hatte im südosttürkischen Diyarbakir friedlich für die Rechte der Kurden demonstriert. «Gefängnis, Folter, Sprachverbote – das war für mich alles normal. In der Schweiz habe ich erst realisiert, dass ein anderes Leben möglich ist.»

Nicht als Opfer dastehen
 
Wenn Sewe von ihren Gefängnisstrafen erzählt, muss sie lachen. «Ich habe das Gefühl, die Menschen in der Schweiz wollen von Flüchtlingen ständig traurige Geschichte hören. Ich will aber gar nicht als bedauernswertes Opfer dastehen.» Im Berner Atelierhaus PROGR organisiert Sewe den Stammtisch «Café CosmoPolis», um Einheimische und Geflüchtete zusammenzuführen.

Einmal im Monat hören sie gemeinsam Musik, essen Bulgur, trinken Kirschsaft mit Minze und versuchen zwischendurch, grosse Fragen zu klären: Was heisst Identität? Was bedeutet Integration? Was ist Heimat? «Ich liebe meine Mutter, aber rassistisch ist sie schon», sagt eine junge Schweizerin.«Wir Flüchtlinge müssen uns einfach besser anpassen», entgegnet ein Syrer. «Fondue statt Hummus? Auch keine Lösung», gibt ein junger Eritreer zu bedenken.

«Anfangs hat mich irritiert, dass die Menschen in der Schweiz so wenig Zeit zum Quatschen haben und ständig von einem Termin zum nächsten hecheln», sagt Sewe und lacht. «Aber inzwischen ist mein Terminkalender auch ziemlich voll.» Vor ein paar Wochen hat sie ihr Studium der Sozialarbeit abgeschlossen, nun sucht Sewe nach einem Job – und hilft in ihrer Freizeit anderen Geflüchteten, die in der Schweiz angekommen sind.

«Ich werde sehr oft gefragt, für Flüchtlinge in Krankenhäusern, Asylheimen oder bei Anwaltsterminen zu übersetzen», erzählt sie. «Wenn ich Zeit habe, sage ich sofort zu.» Als sie in die Schweiz kam, habe sie gerade von anderen Geflüchteten viel Solidarität erfahren. «Diese Tradition will ich fortführen.»

Im Winter 2016 ist Sewe nach Como gefahren. Die italienische Stadt nahe der Schweizer Grenze ist ein Urlaubsort für Superreiche. Vor einem Jahr strandeten hier Hunderte Flüchtlinge und campierten bei klirrender Kälte in Parks. Sie wollten weiter nach Nordeuropa, aber die Schweiz hatte die Grenzen dicht gemacht. Gemeinsam mit Gleichgesinnten verteilte Sewe Schals, Pullover und Handschuhe. 200 Kilo selbst- gestrickte Kleidung hatten sie in der Schweiz gesammelt. «Einen Satz habe ich von den Geflüchteten in Como immer wieder gehört», sagt sie. «‹Die Welt hat uns vergessen.›»

Auch in der Schweiz müssen die Stimmen von Geflüchteten gehört werden, sagt Sewe. Gerade bewirbt sie sich bei Organisationen, die für die Rechte von Geflüchteten und Migrantinnen kämpfen. «Selbst bei solchen Organisationen arbeiten kaum Menschen, die selbst geflüchtet sind. Und auf den Chef- sesseln sitzen sowieso Schweizer – übrigens fast immer Männer», sagt Sewe und lacht. «Daran kann sich gerne noch was ändern!»