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Neustart in Genf

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Wiedergeboren

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Eine Schulklasse in Lugano hat versucht, die Abschiebung von zwei syrischen Kindern zu verhindern. Es hat ihre Sicht auf die Welt verändert.

Von Aline Jaccottet

Alles begann an einem Wintermorgen im Spanischunterricht. Die Klasse 4c des Gymnasiums Lugano 1 diskutierte darüber, wie Flüchtlinge in der Schweiz aufgenommen werden. Plötzlich wagt jemand einen Vorschlag: Könnten wir uns nicht selbst für Geflüchtete einsetzen?

«Die Idee hat mir gefallen», erzählt die 20-jährige Alessia Atroche, die damals Schülerin der 4c war und heute in Lausanne Sozialwissenschaften studiert. In Lugano ist sie häufig Geflüchteten begegnet. «Ihr Schicksal machte uns betroffen, auch weil das Thema Migration jeden Abend in den Nachrichten angesprochen wurde.»

Alessia Atroche und ihre Mitschülerinnen und Mitschüler kontaktierten schliesslich das Rote Kreuz in Paradiso. Dort bot man ihnen an, unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen Nachhilfeunterricht zu geben. Im Januar 2017 fingen sie damit an. «Anfangs wussten wir nicht so recht, wie wir auf die jungen Geflüchteten zugehen sollten», erzählt Alessia. Doch nach und nach werden zarte Bande geknüpft. «Wir fragten sie nie, was sie erlebt hatten, sie erzählten uns davon, wenn sie es selbst wollten.»

Doch nicht so fremd
An einem Nachmittag im Februar 2017 kommen zwei neue Jugendliche zum Nachhilfeunterricht: Hassan und Sherawan, 18 und 19 Jahre alt, die zwei ältesten Kinder der Familie Singhali *. Die Eltern und ihre fünf Kinder – die Jüngste ist erst 5 Jahre alt – haben eine Reise hinter sich, bei der ihr Leben auf dem Spiel stand. Sie sind Jesiden und stammen aus dem Norden Syriens, wo es ihnen im letzten Augenblick gelang, den Kämpfern des «Islamischen Staat» zu entkommen.

Zwischen Mathematik- und Französischaufgaben tauschen sich Hassan und Sherawan mit den Schülerinnen und Schülern der 4c darüber aus, was sie gemeinsam haben, und machen sich mit ihren Unterschieden vertraut. «Sie hatten in der Schule dieselben Dinge gelernt wie wir», sagt Alessia, «und sie rebellierten bei denselben Themen gegen ihre Eltern».

Eine neue Weltsicht
Im April kommt der Schock: Die Aufenthaltsbewilligung der Familie wird nicht erneuert. Für die Eltern und ihre drei jüngsten Kinder wird die Wegweisung zwar gestoppt, doch die beiden Ältesten müssen nach Griechenland zurückkehren. «Sie hatten auf der Flucht so sehr dafür gekämpft, zusammenzubleiben! Ich weinte, als ich nach Hause kam», sagt Alessia Atroche.

Seit jenem Tag kämpft sie mit ihren Kameradinnen und Kameraden dafür, die Behörden zum Umdenken zu bewegen. Zunächst baten sie das Regionalbüro von Amnesty International um Rat. Dort schlug man ihnen vor, Unterschriften für die Familie zu sammeln. Am Tag der Diplomfeier lancieren sie die Aktion und sammeln in kurzer Zeit mehr als 2000 Unterschriften. Mit Erfolg: Das Engagement der Schülerinnen und Schüler bringt den Fall der Familie Singhali in die Medien – und verlangsamt das Wegweisungsverfahren. Doch bis heute hat die Familie keinen endgültigen Bescheid.

Die Initiative der Klasse 4c bescherte Alessia und ihren Kameradinnen und Kameraden neue Freundschaften – und sie veränderte ihre Sicht auf die Welt. «Wir sind gleich alt, aber sie haben keinen Pass, keine Heimat, keinerlei Gewissheit über ihre Zukunft. Und das seit vier Jahren. Uns wurde bewusst, wie viel Glück wir eigentlich haben», sagt Alessia Atroche. «Heute erscheinen mir die kleinen Hindernisse des Alltags viel weniger schlimm.»

* Name geändert