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Es sei alles «wie im Traum» gewesen, damals, als Mohamad Barak mit seiner Familie in Genf-Cointrin ankam. Das war im Dezember 2015.

Von Camille Grandjean-Jornod

Vor der Ankunft in Genf hatte Mohamad Barak mit seiner Familie monatelang im syrischen Bürgerkrieg ausgeharrt – während ein Cousin in Genf alle Hebel in Bewegung setzte, um sie aus dem Land zu holen. Schliesslich durften 23 Familienmitglieder ausreisen. Die älteste war 82, die jüngste drei Jahre alt. Dass diese Menschen nun in Sicherheit sind, ist auch der Hartnäckigkeit eben jenes Cousins zu verdanken: Trotz einer ersten Ablehnung und unzähligen Schwierigkeiten gelang es dem Genfer Lehrer Shady Ammane, humanitäre Visa für seine Familie aus Aleppo zu erhalten.

An seinen ersten Eindruck von der Schweiz erinnert sich Mohamad Barakat noch gut: «Es war die ‹Fête de l'Escalade›, das grosse Volksfest in Genf», erzählt er und lächelt. Zwei Jahre später empfängt uns Mohamad Barakat im ländlichen Genfer Hinterland, mitten in den sich rötlich färbenden Weinbergen. Das Haus haben sie dank Nachbarinnen und Nachbarn des Cousins gefunden. Ein richtiges Freundschaftsnetz entstand, das Mohamad Barakats Familie half, in der Schweiz anzukommen: Jemand organisierte eine Unterkunft, jemand ging mit den Kindern spazieren, eine dritte Person brachte den Oud-Spieler Mohamad Barakat mit Genfer Musikerinnen und Musikern in Kontakt.

Erfolgreiche Kinder
Wenn Mohamad Barakat von seinen Kindern spricht, schwingt in der Stimme des 52-Jährigen Stolz mit: «Sie haben sich sehr schnell integriert, sie haben Freunde, gehen ins Kino, auf Partys ...» Für die Eltern, die beide einen Universitätsabschluss haben, ist schulischer Erfolg wichtig. Und die Kinder scheinen auf bestem Weg zu sein: Die beiden Ältesten bereiten sich auf die Matura vor und träumen davon, Arzt und Zahnarzt zu werden. Das jüngere Mädchen beginnt das letzte obligatoNeustart rische Schuljahr und musiziert bei den Genfer Kadetten. Der 9-Jährige besucht auch die Schule, nimmt Musikunterricht und geht gerne Schwimmen.

Ein Leben genau wie dasjenige ihrer Genfer Kameradinnen und Kameraden. Doch es ist ein Kontrast zu den Schreckenserlebnissen, die der Vater nur zurückhaltend anspricht, weil er nicht mehr zu viel daran denken möchte: der Krieg mit den unablässigen Bombardierungen und später die Festnahme durch den «Islamischen Staat» bei einem ersten Fluchtversuch.

«Noch kein normales Leben»
Für die Erwachsenen fehlt aber noch ein wesentliches Element: «Solange ich nicht arbeite, führe ich kein normales Leben», sagt Mohamad Barakat. Das Nichtstun belastet den Informatiker sehr. Er war in seiner Heimat gewohnt, ein Team zu führen und elf Stunden am Tag zu arbeiten. 24 Jahre lang war er bei den Elektrizitätsbetrieben in Aleppo angestellt. «Mit einem F-Ausweis stellt dich in der Schweiz keine Firma ein», sagt er.

Aber er verliert die Hoffnung nicht und tut alles, um seine Chancen zu verbessern: Er lernt Französisch, feilt an seinem Lebenslauf und besucht Informatikkurse an der Universität in Genf. «Ich nehme die Vorlesungen auf, um sie nachher nochmals anzuhören und das Vokabular zu lernen.»

Daneben hilft er seinen Kindern bei den Hausaufgaben, spielt Oud im Duett mit einem Genfer Klarinettisten und widmet sich dem Gärtnern. Im Garten findet er altbekannte Geschmäcke wieder, zum Beispiel die weisse Zucchetti, die er voller Freude zeigt: «Es sind dieselben wie in Aleppo! Damit macht man mehchi, gefüllte Zucchetti.»

Mohamad Barakat ist Anhänger des Sufismus, einer «Spielart des Islams, die äusserst offen ist für andere», wie er erklärt. Am schwierigsten ist es für ihn, mitanzusehen, was aus seinem Land geworden ist. «In Aleppo waren alle Religionen vertreten – mindestens 30 Kirchen! Und alle lebten friedlich nebeneinander. Der Krieg hat nicht nur die Häuser zerstört, sondern auch die Menschen. Jetzt sind die Syrer gespalten, Feinde.»

Er schätzt es, in der Schweiz wieder eine Art des Zusammenlebens zu erfahren: «In Frankreich oder in den USA lebt jede Nationalität in ihrem eigenen Quartier, aber in der Schweiz wollen die Leute nicht, dass die einen von den anderen getrennt sind.»