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Nach der Flucht das Engagement

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«Mama international», so wird Claire Musard von den Flüchtlingen genannt. Die 70-Jährige engagiert sich schon seit Langem für Verfolgte. Ihre rebellische Ader lebt sie heute mit viel Freude aus: «In meinem Alter muss man sich nicht mehr rechtfertigen.»

Von aline Jaccottet

Jeden Morgen kümmert sich Ahmed um den Kaffee. Claire bringt ihm einen frisch gepressten Fruchtsaft und liest ihm anschliessend die Zeitung vor. Dieses vertraute Ritual, das wohl so manches Paar pflegt, ist bei Claire und Ahmed fast jeden Tag zu beobachten. Doch sie verdanken ihre Begegnung nicht Amors Pfeil, sondern dem Krieg in Syrien. Die Waadtländerin Claire ist siebzig und lebt in Gland, einer friedlichen Ortschaft am Ufer des Genfersees. Der syrische Kurde Ahmed ist dreiundzwanzig und musste auf der Flucht aus seiner Heimat Tausende von Kilometern zurücklegen.

Sanfte Rebellion
So vieles trennt sie und doch schlossen Claire und Ahmed innert kürzester Zeit Freundschaft – eine Freundschaft von der Art, die ein Leben lang hält. «Zehn Minuten nachdem wir uns kennengelernt hatten, waren wir bereits auf dem Weg zur Sozialarbeiterin, um seine Aufnahme zu regeln», erzählt Claire amüsiert. Unter der Woche teilt sie nun ihre Wohnung mit Ahmed, der inzwischen Jura studiert. Die Wohnung ist mit einem fröhlichen Sammelsurium an Gegenständen gefüllt. Claire hat sie von ihren Reisen, beruflichen Erfahrungen und Leidenschaften mit nach Hause gebracht: unzählige Gemälde, Fotos und Objekte, um welche die Nachbarskatze auf der Suche nach einer Streicheleinheit sorgfältig herumschleicht.

Claire Musard war Bibliothekarin, Fotografin, Weberin. Heute steht «Süsswasserforscherin» auf ihrer Visitenkarte. Seit ihrer Pensionierung beansprucht sie diese Originalität mit Freude für sich. «Ich tue, worauf ich Lust habe, und schulde niemandem etwas. Eine Freundin sagte mir: Wenn du 70 bist, liegt der ganze gesellschaftliche Druck hinter dir. Sie hatte Recht!», erklärt sie.

Hilfe für Freunde
Claire stammt aus einer Familie mit fünf Töchtern und Eltern, die unterschiedlichster gesellschaftlicher Herkunft entstammten und für sich bereits damals «eine neue Lebensart» erfunden hatten. Ihre Grossmutter stand ihr besonders nahe – «für sie war das Interesse am Mitmenschen Pflicht». Mit Zwanzig entdeckte Claire in der «erniedrigenden» Zeit, in der den Frauen das Stimmrecht noch verwehrt war, Mahatma Gandhi und die Gewaltlosigkeit: «Ich war begeistert». Es waren die schwierigen Jahre der Diktaturen von Francisco Franco und Antonio de Oliveira Salazar. Die politischen Flüchtlinge aus Spanien und Portugal, denen Claire half, wurden zu «Freunden».

Heute stammen ihre Freunde und Freundinnen aus Syrien, Eritrea oder dem Jemen. Claire Musard hat sich nicht verändert: Sie empfängt alle mit offenen Armen. Oder, besser gesagt, sie drückt ihnen einen Kugelschreiber in die Hand, denn seit acht Jahren unterrichtet sie Französisch für Asylsuchende, die, aus welchem Grund auch immer, keinen Zugang zu den von den Asylorganisationen angebotenen Kursen haben. «Mit der Zeit versteht man, wie bestimmte Fehler entstehen und wie man sie vermeiden kann – das ist spannend», erklärt sie begeistert. Ihre Grosszügigkeit zeigt sich aber nicht nur in der Zeit, die sie den Menschen schenkt, sondern auch finanziell, denn sie zögert nicht, Bedürftige auch materiell zu unterstützen.

«Andere aufnehmen ist ganz einfach» Helfen ist für Claire eine Selbstverständlichkeit: «In der Schweiz verkomplizieren sich die Leute das Leben immer. Dabei ist es ganz einfach, jemanden bei sich aufzunehmen», meint sie. Was auch immer sie gibt, die 70-Jährige betont, sie erhalte stets das Hundertfache zurück. «Ich habe mein Bewusstsein dafür geöffnet, was andernorts geschieht, und dabei Dinge gelernt, die man sich gar nicht vorstellen kann. Ich habe die ganze Welt in meine Küche eingeladen», schliesst Claire Musard mit sanfter Stimme.