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«Wenn nicht ich, wer dann?»

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Hewan Solomon Biruk ist gerade einmal zehn Jahre alt, als sie aus ihrer Heimat entwurzelt wird. Dank ihrer grossen Wissbegierde findet das Mädchen die Kraft, sich in der Fremde ein neues Leben aufzubauen.

Von aline Jaccottet

Hewan musste Äthiopien vor 15 Jahren verlassen, doch die Erinnerungen an die Heimat sind ihr bis in ihr Wohnzimmer in Cully gefolgt, von wo aus man gerade das abendliche Licht über den Weinbergen leuchten sieht. Heute trägt Hewan ein traditionelles weisses Kleid ihrer Grossmutter, der zentralen Persönlichkeit in ihrer äthiopischen Vergangenheit. «Als ich einen Monat alt war, gaben mich meine Eltern in die Obhut meiner Grosseltern und flohen ins Ausland, denn sie wussten, dass sie in Gefahr waren», erzählt Hewan mit sanfter Stimme.

Ihre Kindheit mit Onkeln und Grosseltern, die sich liebevoll um sie kümmerten, ist gezeichnet von schönen Erinnerungen. «Ich war wie eine äthiopische Heidi und wollte damals nur eines: für immer in dieser wunderbaren Welt leben», erzählt Hewan und man spürt die Emotion in ihrer Stimme. Die Grossmutter, die sie so verehrt, war jedoch der Meinung, ihre Zukunft liege in Europa. Also schickt sie das zehnjährige Mädchen zu ihren Eltern in die Schweiz. Hewan braucht «Jahre», um sich von dieser Trennung zu erholen und sich nach dem Wiedersehen mit ihren Eltern in der Schweiz zu Hause zu fühlen, wie sie mit feuchten Augen zugibt.

Die Unterstützung wirkt Wunder
Dass ihre Lehrerinnen und Lehrer und die MitschülerInnen sie so warmherzig empfangen, ist für Hewan wichtig, um in ihrem neuen Leben anzukommen. Hewan begeistert sich fürs Französische und gibt sich Mühe, alle Nuancen dieser Sprache zu erlernen. Sie erhält Unterstützung von der Lehrerschaft, die beeindruckt ist von ihrer Beharrlichkeit, und Bewunderung von ihren Klassenkameradinnen und -kameraden, die sie als Vorbild betrachten. «Die Wertschätzung, die man mir entgegenbrachte, war Balsam für meine wunde Seele», betont sie im Rückblick. Dieses günstige Klima wirkte Wunder: Im Februar wurde das Kind in einer Einführungsklasse eingeschult, doch schon im August kann es dank ausgezeichneten Resultaten in allen Fächern in die Regelklasse wechseln. Und so fühlt sich Hewan schliesslich in der Schweiz zu Hause, wo sie «noch nie eine rassistische Äusserung über uns gehört hat». «Im Gegenteil, unsere Nachbarn waren immer freundlich zu uns», bekräftigt sie.

Nachdem sie den Schulabschluss trotz der kürzlichen Geburt ihres Sohnes Leyan mühelos schafft, beginnt Hewan eine Lehre als Zeichnerin EFZ mit Fachrichtung Ingenieurbau. Technisches Zeichnen gehört nicht zu ihren Stärken, doch sie scheut sich nicht vor Herausforderungen; sie möchte einen ähnlichen Beruf ausüben wie ihr Onkel, ein Ingenieur. Mit 25 wird sie nun bald den ersehnten Abschluss erhalten, unterstützt durch ihre Eltern, aber auch durch ihre Schwiegermutter, eine Schweizerin, die sie als ihre zweite Mutter betrachtet.

«Als ich einen Monat alt war, gaben mich meine Eltern in die Obhut meiner Grosseltern und flohen ins Ausland, denn sie wussten, dass sie in Gefahr waren»

Ein Baum, der Wasser und Pflege benötigt
Hewan Solomon Biruk bedenkt ihr Heimatland heute mit einem sanften, aber auch einem strengen Blick. Die sozioökonomische Ungleichheit sei riesig, sagt sie. Und man dürfe nicht vergessen, dass die Regierung und die Krisen ihre gesamte Familie zum Auswandern gedrängt haben. «Für mich ist Äthiopien die Quelle. Ich trauere dem Leben dort noch immer nach, auch wenn es mir schwerfallen würde, dorthin zurückzukehren», meint sie. Und die Schweiz? «Die Schweiz ist ein Baum. Wir, die wir hier Zuflucht gesucht haben, müssen ihn giessen und pflegen, damit er wächst und sein Schatten für alle einladend bleibt», erklärt sie, während ein Lächeln über ihr sanftes Gesicht huscht.